Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt!

Sozialistische Erziehungskonzepte im deutschsprachigen Raum und ihre Rezeption in der Schweiz

In den pädagogischen Konzepten der Roten Falken geht es um Selbstverwaltung, gemeinschaftliche Entscheidungsfindung und die Verminderung formaler Hierarchie zwischen Kindern und Erwachsenen. Diese erzieherischen Grundpfeiler wurden innerhalb der westeuropäischen Arbeiter:innenbewegung während des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts formuliert.

Arbeiter:innenkultur und sozialistische Erziehung

Postkarte „Freundschaft“ (Sozialarchiv)

Die Strömung des «Austromarxismus», der sich sowohl gegen bolschewistische Avantgardepolitik als auch gegen sozialdemokratischen Reformismus wandte, war für die regen Debatten um sozialistische Erziehung prägend. Zentraler Punkt dieser Strömung des Marxismus war die politische und kulturelle Aufklärung der Arbeiter:innen mit dem Ziel, ihre politische Macht zu stärken und so die Grundlagen dafür zu schaffen, dass eine sozialistische Gesellschaft überhaupt erst möglich wird. Es bestanden vielschichtige Bemühungen um eine möglichst umfassende Einbindung der Arbeiter:innen in sozialistische Kultur-, Freizeit- und Bildungsorganisationen. Daraus ging eine Arbeiter:innenkultur hervor, die allen Aspekten des Alltags eine politische Dimension beimass. In Verbindung mit der Stärke der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) und der Gewerkschaften schuf dieses kulturelle Netzwerk in Wien eine einzigartige Atmosphäre: Das «Rote Wien». In teilweiser Abkehr der bis dahin vorherrschenden Auslegung der marxistischen Theorie, die besagte, dass die Umstände zu ändern seien, um den Menschen ein menschliches Verhalten zu ermöglichen, entstand im «Roten Wien» eine lebhafte Debatte über die Heranbildung eines «neuen Menschen» für eine kommende Gesellschaft, die sich auf die Bewusstseinsbildung, also Arbeiter:innenbildung und sozialistische Erziehung fokussierte.

Als einer der Vordenker der austromarxistischen Strömung betonte der Jurist und Philosoph Max Adler (1873-1937), dass die Menschen nicht nur Produkt ihrer Umstände sind, sondern auch deren Umformer:innen und Umgestalter:innen. «Die energische Herausarbeitung der sozialen Bedingtheit aller gesellschaftlichen Erscheinungen und ihrer Entwicklung und die Zurückführung derselben auf ihre in letzter Linie ökonomische Verursachung liess zunächst eine ganz andere Anschauung in den Vordergrund treten: die Menschen ändern sich erst und nur mit ihren Lebensverhältnissen. Will man also neue Menschen, so müssen erst die alten Lebensformen und Zustände weggeschafft werden. Die neue Menschheit erwächst erst aus einer neuen Gesellschaft. Die ältere Richtung des Marxismus hat diese fundamentale soziologische Erkenntnis nur allzu mechanisiert […]. Aber innerhalb einer solchen Auffassung konnten naturgemäss Erziehungsfragen […] nicht mehr im Mittelpunkt des Gegenwartsinteresses stehen, sondern wurden als Aufgaben, die erst spätere glückliche Generationen zu beschäftigen haben werden, der Zukunft zugeschoben.»

Auch im Deutschland der Weimarer Republik wurden neue marxistische Auslegungen diskutiert. Max Adler beteiligte sich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zusammen mit Mitgliedern der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) um Paul Levi und Kurt Löwenstein an der von Rosa Luxemburg initiierten Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Revolution, Sozialismus und Demokratie. Daraus entstand die Position, dass eine Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse natürlich und demokratisch «aus dem Bewusstsein der proletarischen Massen herauswachsen» müsse. Diese Diskussion und ihre Anwendung auf die Gegebenheiten der parlamentarischen Republik stellen eine wichtige Basis für die Adaption der austromarxistischen Konzepte in Deutschland dar. In der vorrevolutionären Situation um 1918 schien es besonders wichtig, dass die Arbeiter:innen die Gunst der Stunde zum Umsturz erkannten. Im Bestreben, die Proletarier:innen zu den Akteur:innen der Veränderung zu machen, entstand ein neues, prozesshaftes Politikverständnis, das Bewusstseinsbildung, Organisierung und politischen Widerstand zusammendachte.

Einige prägende Figuren sozialistischer Erziehungstheorie

internationales Falkenzeltlager in Verneul bei
Paris, 1935 (Sozialarchiv)

Das Streben nach Bewusstseinsbildung und Aufklärung bezog sich in besonderem Masse auch auf die Erziehung der Arbeiter:innenkinder. Prämisse sozialistischer Pädagogik ist hierbei, dass Erziehung nie wertneutral sein kann, weshalb es als Aufgabe sozialistischer Erzieher:innen galt, Werte wie Selbsttätigkeit, Gemeinschaftlichkeit und Klassenbewusstsein zu vermitteln. Max Adler, der die Diskussionen um die Erziehung «neuer Menschen» entscheidend mitprägte, mass der sozialistischen Erziehung grosse Bedeutung für die Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu. Laut ihm muss die Erziehung «aus einem Klassenmittel der Beherrschung in den Händen des Kapitals zu einem Klassenmittel der Selbsthilfe des Proletariats werden, sie muss aus der konservierenden Ideologie der alten Welt zum zersetzenden und revolutionierenden Ferment in dieser und zur aufbauenden Ideologie der umzuschaffenden Welt werden.» Aufgrund dieser Bestrebung wurden in Österreich die Kinderfreunde gegründet, die rasch von einem Selbsthilfeverein zu einem politischen Erziehungsverband wurde, in dem Arbeiter:innenkinder gemeinschaftlich zu solidarischen und aktiven Menschen heranwachsen sollten. Nach der Gründung des «Arbeitervereins Kinderfreunde» in Graz im Jahr 1908 weitete sich diese Erziehungsorganisation via Wien in ganz Österreich aus. Bis 1917 wurden sie europaweit zur grössten ihrer Art. Auch in Deutschland wurde im Jahr 1923 die «Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde» aus der Taufe gehoben. Die österreichischen Kinderfreunde führten 1925 die Bezeichnung «Rote Falken» für Kinder ab zwölf Jahren ein, jüngere wurden «Jungfalken» genannt. Die deutschen Kinderfreunde übernahmen diese Namen und Strukturen zwei Jahre später. Die österreichischen Kinderfreunde hatten im Jahr 1934 230‘000 Kinder, Helfer:innen und Eltern als Mitglieder, ihr deutsches Pendant deren 200’000.

Porträt von Otto Felix Kanitz um 1922

Otto Felix Kanitz (1894-1940), Philosoph und Schüler von Max Adler, leitete zusammen mit Anton Tesarek ein Schulprojekt, wo mit nichtautoritärem Lernen und Arbeiten experimentiert wurde. Weiter leitete er die «Sozialistische Erzieherschule», in welcher ehemalige Kinderfreunde-Kinder zu sozialistischen Erzieher:innen ausgebildet wurden. Kanitz war Mitglied des Reichsvorstands der österreichischen Kinderfreunde und seine pädagogischen Schriften hatten grossen Einfluss auf die Diskussionen um sozialistische Erziehungsarbeit. Ein beträchtlicher Teil seiner Texte wandte sich der Auseinandersetzung mit den Grundsätzen und Zielen der Kinderfreunde zu: Erziehung zum Klassenbewusstsein, zur Solidarität, zur Gemeinschaft, zur Freiheit, zur Klarheit und zur Gleichheit. Wichtiges politisches und analytisches Fundament seiner pädagogischen Theorien bildeten dabei soziologische und psychologische Untersuchungen über die Lebenssituation proletarischer Kinder in Bezug auf die Wirtschaft, die Familie, das Recht und die Erwachsenen. Dabei stellte er fest, dass Arbeiter:innenkinder nicht nur materiell, sondern auch psychisch unter diskriminierenden, entmündigenden und gewaltvollen Erfahrungen litten. Kanitz charakterisierte die Erziehung in der Familie als durch überlieferte Herrschaftsbeziehungen und die vorherrschende wirtschaftliche Not bestimmt, was sich in Gewalt an Kindern äusserte und eine Stütze der bürgerlichen Sozialisation und somit des Kapitalismus war. Aus diesem Grund erfordere der Klassenkampf eine sozialistische Erziehung ausserhalb des Schulwesens und der Familie.

Kurt Löwenstein

Kurt Löwenstein (1885-1939) war promovierter Pädagoge und Reichstagabgeordneter der USPD. Er sass einigen sozialistischen Bildungs- und Kulturvereinen vor, unter anderem der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Lehrer. Sein grösstes Engagement widmete er jedoch den deutschen Kinderfreunden, deren erster Vorsitzender er war. Seine Ausführungen über sozialistische Erziehung waren richtungsweisend. Er ging mit Kanitz’ Einschätzung einig, dass sozialistische Erziehung ausserhalb von Familie und Schule stattfinden muss. Überdies unterstrich er, dass der Mehrfachbenachteiligung proletarischer Kinder nicht mit staatlicher Fürsorge begegnet werden konnte. Vielmehr sollten die Kinder durch sozialistische Erziehungsarbeit befähigt werden, ihre Interessen zu erkennen, zu artikulieren und zu lernen, ihre Angelegenheiten selbstbestimmt und in kollektiven Prozessen auszuhandeln.

Löwenstein analysierte die dialektische Beziehung von Gesellschaft und Erziehung und vertrat die Position, dass Heranführung und Unterweisung an bestehende Normen, Werte und gesellschaftliche Praxis der Generation der Erwachsenen keine Basis sozialistischer Erziehung sein könne. Daraus ging eine explizite Kritik von hierarchischen Beziehungen in der pädagogischen Arbeit hervor: «[Die] Gesellschaft ist kein stabiles Moment […], nichts Feststehendes, sondern ein Werdendes, ein in Gegensätzen Wachsendes und sich Entfaltendes. […] Wir [Erwachsenen] sind – und jede kritische Betrachtung von uns selbst wird das immer klar hervortreten lassen – viel zu sehr an die Gesellschaftsform und an die Gesellschaftsideologie unserer Gegenwart und unserer Vergangenheit geknüpft, um das nach uns kommende heranwachsende Geschlecht aus seiner Bestimmung heraus und aus seinen gesellschaftlichen Bedingungen heraus unvoreingenommen betrachten zu können. Darum, wenn wir, die Erwachsenen, von Erziehung sprechen wollen, so können wir es nur in dem Masse, als wir selbst mit in das Wachstum der Zeit uns einbegreifen.»

Egalitäre Bestrebungen sozialistischer Erziehung

Die hierarchische Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern war auch bei Kanitz ein vieldiskutiertes Thema. Er postulierte, dass sozialistische Erziehung auf die Ausübung von Herrschaft verzichten müsse. Um proletarischen Kindern eine Sozialisation zu ermöglichen, in der sie nicht unterdrückt werden, vertrat er die Haltung, dass sozialistische Erziehung mit der Selbsterziehung der Erzieher:innen beginnt: «Sozialistische Erziehung fordert […] von […] Erwachsenen, […] nichts anderes als Konsequenz; […] dass sie all die Grundsätze, die sie innerhalb der menschlichen Gesellschaft verwirklicht haben wollen […] auch im Umgang mit Menschen, die schwächer sind als sie, verwirklichen. […] Verzicht auf Herrschaft gegenüber den Schwächeren, trotzdem man selbst als Schwächerer beherrscht worden ist, Verzicht also auf jegliches Erwachsenenvorrecht gegenüber den Kindern, das ist die wichtigste Forderung der sozialistischen Erziehung. [Sie ist] der Verzicht der erwachsenen Generation auf die Revanche gegenüber der heranwachsenden. Nur ein Mensch, der diesen Verzicht restlos durchgeführt hat, […] ist imstande, das Gefühl der Solidarität in den Kindern des Proletariats so zu stärken, dass es zum mächtigsten, die Weltanschauung des Menschen endgültig bestimmenden Gefühl wird!»

„Sozialistische Erziehung bedarf Hilfe durch
Erwachsene, jedoch keine Leitung oder Führung.“

Kurt Löwenstein

Die sozialistische Erziehungstheorie der Kinderfreunde legte grossen Wert auf die Mündigkeit und Selbstermächtigung der proletarischen Kinder. Im Vordergrund stand also keineswegs eine von aussen aufgedrängte, ideologisierende Erziehung, sondern vielmehr das konkrete Erleben anderer Zustände und die sich daraus ergebenden Handlungsmöglichkeiten und Freiheiten, die im offensichtlichen Gegensatz zu denjenigen der gesellschaftlichen Realität standen. Die Kinderfreunde pflegten einen Demokratiebegriff, der Politik nicht auf die Institutionen und Parlamente beschränkt, sondern sie auf alle Bereiche des Lebens und die Interessen der Menschen bezieht. Die Funktion der Pädagog:innen bei den Kinderfreunden bestand darin, den Kindern bei ihrer kollektiven Selbsterziehung zur Seite zu stehen. Nach Löwenstein bedarf sozialistische Erziehung Hilfe durch Erwachsene, jedoch keine Leitung oder Führung. Die Erzieher:innen der Kinderfreunde wurden daher Helfer:innen genannt und hatten die Aufgabe, gemeinsam mit den Kindern mögliche Bedürfnisse und Umgangsformen zu erarbeiten, die eine sozialistische Gesellschaft mit sich bringen wird.

«[Die] Erfahrung, dass menschliches Zusammenleben auch anders
gestaltet werden kann, ist eine ganz wichtige Voraussetzung für
die Entwicklung eines kritischen Bewusstseins und der Fähigkeit, sich nicht von den
bestehenden Verhältnissen überwältigen zu lassen“

Thomas Gill, ehemaliger Geschäftsführer Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein

Die Kinderfreunde versuchten die egalitären Grundlagen der sozialistischen Erziehungstheoretiker:innen in ihrer alltäglichen pädagogischen Praxis umzusetzen. Die Roten Falken und die Jungfalken waren als demokratische Gemeinschaften konzipiert und in den regelmässig stattfindenden Gruppenstunden stand das Leben und Einüben von Mitbestimmung und Selbstbestimmung im Vordergrund. Das subjektive Erleben und das «Hineinwachsen» der Arbeiter:innen-Kinder in die angestrebte gesellschaftliche Veränderung war somit – nebst dem nicht zu vernachlässigenden Aspekt fürsorglicher Tätigkeiten – der zentrale erzieherische Anspruch der Kinderfreunde-Pädagogik. Der unmittelbare Bezug zum Alltagsleben und die Suche nach einer möglichst ausgeprägten Selbstbestimmung und Partizipation in allen Angelegenheiten sollten die proletarischen Kinder als «Träger der werdenden Gesellschaft» zu selbstbewussten, mündigen Akteur:innen werden lassen. Damit wurde explizit keine idealistische «Inselpädagogik» angestrebt, sondern die Herausbildung einer über die gegenwärtigen Zustände hinausweisenden Verneinung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch subjektives und reales Erleben. Dieses Bestreben fasst Thomas Gill, ehemaliger Geschäftsführer der «Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein e.V.», mit dem Begriff der Antizipation, den er folgendermassen beschreibt: «[Die] Erfahrung, dass menschliches Zusammenleben auch anders gestaltet werden kann, ist eine ganz wichtige Voraussetzung für die Entwicklung eines kritischen Bewusstseins und der Fähigkeit, sich nicht von den bestehenden Verhältnissen überwältigen zu lassen, sondern zu seinen Erkenntnissen und Überzeugungen zu stehen. Antizipation verbindet das Moment der Kritik und der Analyse mit der individuell persönlichen Erfahrung, und gerade dies macht die damit verbundenen Lernprozesse so intensiv und nachhaltig. […] Der Anspruch der Antizipation ist, […] dass alle Pädagogik […] sich nicht nur an der Gegenwart messen muss, sondern an dem, was sein könnte. […] Bezogen auf die gesellschaftspolitischen Prozesse insistiert Antizipation darauf, dass das Bestehende nicht das Ende der Geschichte ist. Antizipation ist eine Einladung zu einem ‚Mehr‘ an Selbstbestimmung und Autonomie.»

Gelebter Sozialismus in den «Kinderrepubliken»

Kinderrepublik Sachsen 1929 (Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte)

Eine zentrale Rolle der pädagogischen Arbeit der Kinderfreunde nahmen die bis zu vier Wochen dauernden Sommerlager ein. Die Zeltlager wurden als «Kinderrepubliken» ausgerufen und versammelten ab den späten 1920er-Jahren jeden Sommer Tausende von proletarischen Kindern. Löwenstein widmete den «Kinderrepubliken» viele Vorträge und Beiträge in Zeitschriften. In einem pädagogischen Leitfaden schreibt er: «Unsere Zeltlager nennen wir ‚Kinderrepubliken‘ und deuten in diesem Namen schon ihre Absicht an. Diese Kinderrepubliken sollen in den Dienst unserer Erziehungsaufgabe gestellt werden. Die bürgerliche Gesellschaft mit ihren Einrichtungen macht unsere Kinder untertänig, passiv und egoistisch. In den Vorbereitungen für das Zeltlager, in den vielen kleinen Beratungen und Handlungen, reifen Kinder zu selbständiger kollektiver Arbeit als kleine Funktionäre der Gemeinschaft heran und bekommen ein lebendiges Gefühl dafür, als Arbeiterkinder zusammenzugehören und trotz der Not und des Elends und der Zurücksetzung etwas Frohes und Beglückendes schaffen zu können. ‚Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt!‘ So werden sie in ihrer Art klassenbewusst und sozialistisch.»

Kinderrepublik Seekamp 1927 (Archiv der Arbeiterjugendbewegung)

Die Kinderrepubliken als aktiver und gelebter Sozialismus sollten laut Löwenstein Höhepunkt und Bewährung des vorangegangenen Jahres sein, und waren somit keineswegs losgelöst von Erlebnissen vor und nach dem Ferienlager. Löwenstein misst der Selbstbestimmung in den Kinderrepubliken zudem eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung bei: «Wir erziehen […] in der Kinderrepublik unsere Roten Falken für die Arbeitsart der werdenden modernen Gesellschaft. In der Form der Arbeitsverteilung und der Aufgabenverantwortung machen wir in unseren Kindern soziales Wollen und soziales Handeln zum frohen Kindererlebnis. Das gleiche gilt für die durchgeführte Selbstverwaltung der Kinder. Die Demokratie der Kinderrepublik ist ebenfalls ein Mittel, um die Kinder für ihre kommenden gesellschaftlichen Aufgaben zu erziehen.» Die Zeltlager verstanden sich als sozialistisches Gemeinwesen. Sie waren demokratisch und gleichberechtigt organisiert, die Koedukation der Geschlechter sah vor, dass es keine geschlechtergetrennten Zelte und auch keine geschlechtliche Arbeitsteilung gab. Alle arbeiteten für die grosse Gemeinschaft, die Roten Falken, Jungfalken und Helfer:innen schickten Delegierte ins Lagerparlament. Die Parlamentssitzungen waren keine nachahmende Spielerei, sondern bezogen sich auf reale Situationen und Herausforderungen im Zeltlager. Löwenstein bezeichnet das Zurückgreifen auf Formen des Parlamentarismus als aktuell erreichten Zustand der Entwicklung, der durchaus zu gegebener Zeit durch eine fortschrittlichere Form der Entscheidungsfindung und Koordination abgelöst werden kann. Die Organisationsform in den Kinderrepubliken war nicht unumstösslich, es stand den einzelnen Gruppen frei, Veränderungen der Strukturen und Abläufe vorzunehmen. So versuchten die sozialistischen Erzieher:innen ihrem Ziel näher zu kommen, formale Hierachien zu vermindern und Raum für kindergerechte Aushandlungsformen und Arbeitsweisen zu schaffen.

Zeltlagerinternes Wahlprogramm 1935 in Nordfrankreich (Sozialarchiv)

Übernahme sozialistische Erziehungskonzepte in der Schweiz

Anny Klawa-Morf 1936 (Sozialarchiv)

Einige der Gruppierungen, die sich während dieser Zeit mit sozialistischer Pädagogik befassten, gründeten im Jahr 1922 die «Sozialistische Erziehungs-Internationale (SEI)». Im gleichen Jahr wurden auch in der Schweiz die ersten Gruppen der Kinderfreunde ins Leben gerufen. Eine Schlüsselfigur war dabei Anny Klawa-Morf (1894-1993). Sie war Zürcher Sozialistin und Frauenrechtlerin, langjähriges Mitglied von sozialistischen Jugendorganisationen, Gewerkschaften und der Sozialdemokratischen Partei. Anny Klawa-Morf brannte für die sozialistische Revolution und war breit vernetzt, so war sie unter anderem mit Wladimir Iljitsch Lenin und seiner Lebenspartnerin Nadeshda Krupskaja befreundet. Während der Zeit der Räterepublik weilte sie in München, woher sie enttäuscht zurückkehrte, weil sich viele Mitglieder der «Roten Armee» auf eine Weise verhalten haben, die sie von Sozialist:innen nicht erwartet hätte. Später lebte sie in Bern und gründete 1922 die erste Kinderfreunde-Gruppe der Schweiz. Ihr Beweggrund war ein sehr persönlicher: «An einer Delegiertenversammlung traf ich den Genossen Geissbühler […] und diskutierte mit ihm darüber, dass man schon die Kinder zum Sozialismus erziehen sollte. Nach all dem, was ich in München erlebt hatte, schien es mir unmöglich, dass Leute erst mit dreissig oder vierzig Jahren zu Sozialisten werden könnten.» Im selben Jahr wie die Kinderfreunde in Bern entstanden, gründete auch der Lehrer Albert Hofer eine Ortsgruppe der Kinderfreunde in Biel, nachdem er im «Roten Wien» zu Besuch war. Auch in Zürich, Basel, Burgdorf und Winterthur entstanden in den folgenden Monaten Kinderfreunde-Sektionen. Der «Landesverband Schweizerischer Kinderfreunde-Organisationen (Lasko)» vereinigte ab 1928 die verschiedenen Ortsgruppen. In der Blütezeit der Kinderfreunde und Roten Falken in den Jahren vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges existierten knapp vierzig Gruppen in allen Landesteilen, also auch in der Romandie und im Tessin. Die Aktivitäten waren Gruppenstunden, Feiern zur Wintersonnenwende und zum 1. Mai, Wochenendfahrten, grosse Zeltlager und die Teilnahme an internationalen Lagern.

Die Schweizer Kinderfreunde pflegten einen engen Kontakt zu den Vordenker:innen sozialistischer Erziehung, unter anderem zu Kurt Löwenstein. Als die deutschen Kinderfreunde 1930 eine ihrer «Kinderrepubliken» am Thunersee veranstalteten, hielt Löwenstein an einem Wochenende einen zweitägigen Kurs für die Schweizer Helfer:innen ab. Der Lasko sorgte dafür, dass pädagogische Theoretiker:innen nicht nur vor Mitgliedern der Kinderfreunde sprachen, sondern auch bei anderen Vereinen der Schweizerischen Arbeiter:innenbewegung Referate abhielten, um die Anliegen der sozialistischen Erziehung breiter abzustützen.

«Wir wollten mit den Kindern […] nicht nur basteln und spielen, sondern ihnen auch den
Gedanken des Sozialismus näherbringen und sie zur Solidarität erziehen.

Anny Klawa-Morf

Erste Kinderrepublik in der Schweiz in Magglingen 1931 (Sozialarchiv)

Anny Klawa-Morf kommt in ihrer Schilderung der alltäglichen Aktivitäten der Berner Kinderfreunde immer wieder auf die Wichtigkeit des sozialistischen Gemeinschaftsgefühls zu sprechen: «Wir wollten mit den Kindern […] nicht nur basteln und spielen, sondern ihnen auch den Gedanken des Sozialismus näherbringen und sie zur Solidarität erziehen. Das begann schon im Kleinen: Auf unseren Wanderungen kochten wir Tee, sammelten das mitgebrachte Essen der Kinder ein und machten etwas für alle daraus. […] Manchmal hatten [die Kinder] Vater oder Mutter [nach politischen Themen] gefragt und hatten die Antwort bekommen: Du bist noch zu jung, das verstehst du noch nicht. Aber ich sagte ihnen: Auch ihr versteht das! Ich hatte die Kinderfreunde vor allem auch gegründet, weil ich wollte, dass die Frauen mehr anerkannt würden. Ich hatte ja schon früher dafür gekämpft, dass auch die Frauen miteinbezogen werden.» Die erste gesamtschweizerische «Kinderrepublik» war 1931 auf einem Zeltplatz im Kanton Graubünden geplant, was jedoch durch amtliche Restriktionen verunmöglicht wurde. So wichen die Kinderfreunde auf das Gelände der Bieler Ortsgruppe in Magglingen aus. In dieser ersten grossen «Kinderrepublik» tauchten unter den beteiligten Helfer:innen einige Schwierigkeiten und Uneinigkeiten auf. Dabei ging es nebst unterschiedlichen Auffassungen bezüglich des Speiseplans insbesondere um die Mitbestimmung der Kinder, die von einigen Helfer:innen als zu wenig weitreichend bemängelt wurde. Die nächste grosse «Kinderrepublik» fand sechs Jahre später in Böningen statt, für diese arbeitete der Landesverband eine umfassende Lagerverfassung aus, um dem demokratischen Charakter des Zeltlagers zu erhöhen. In dieser wird festgehalten: «Das Lager soll der Festigung und dem inneren Ausbau der Gesamtbewegung dienen durch Fühlungnahme der Einzelnen, der Gruppen und der Helferschaft untereinander; gemeinsames Erleben und praktische Pflege der Solidarität bei Arbeit, Spiel und Wandern, in Freude und Not; Austausch und Bereicherung der Erkenntnisse und Erfahrungen in menschlicher, sozialer, politischer, technischer und für die Helfergemeinschaft besonders in pädagogischer Hinsicht. […] Die am Lager teilnehmenden Gruppen bilden selbständige Zeltgemeinschaften. Mehrere Zeltgemeinschaften werden zusammengefügt zu einer Dorfgemeinschaft. Sämtliche Lagerteilnehmer bilden zusammen die Lagergemeinschaft.»

Unter dem Eindruck der faschistischen Machtübernahmen in den Nachbarländern und der aufkommenden Angst vor einem Krieg rückten zudem antimilitaristische Diskussionen in den Vordergrund. Gerold Meyer, damaliger Präsident des Lasko, hob 1933 in Abgrenzung zur Pfadfinder-Bewegung in einem Bericht über die Kinderfreunde und Roten Falken im «Schweizerischen Jahrbuch der Jugendhilfe» dieses Selbstverständnis hervor: «Rangabzeichen und Stufenleitern sind uns fremd, alle Funktionäre, alle Helfer und Falken sind einander gleichgestellt und tragen auch die gleiche schlichte blaue Bluse mit dem roten Falken. Wir wollen keine Über- oder Unterordnung […]. Die Kinderfreunde fordern nicht nur für die Erziehung, sondern auch für das gesellschaftliche Leben die Überwindung des Gewaltprinzips als etwas Menschenunwürdiges. Sie erziehen daher antimilitaristisch. Das ganze Militärsystem widerspricht nach ihrer Überzeugung sozusagen in allem dermassen dem Lebens- und Entwicklungsinteresse des Kindes, dass sie in ihm einen der furchtbarsten Feinde des heranwachsenden Menschen erkennen.» Kurz vor Kriegsausbruch äusserte sich der Antimilitarismus in der Rhetorik der Schweizer Kinderfreundebewegung verstärkt. Im Jahresbericht des Lasko von 1937 wird festgehalten: «Jede bloss äusserliche Demonstration ist abzulehnen. Wir wollen nicht nach aussen ‚tun als ob’, sondern im Lagerinnern ringen um die Verwirklichung einer unserer Ideen entsprechenden Lebensgemeinschaft. Ein guter Lagergeist wirkt sich von selbst propagandistisch und demonstrativ aus.»

Anna Siemsen, eine sozialistische Pädagogin aus Hamburg, die während einigen Jahren in der Schweiz im Exil lebte, hielt an der Delegiertenversammlung des Lasko im Jahr 1942 ein Referat. In diesem formulierte sie den «freie[n], seinem Gewissen folgende[n], aus eigener Erkenntnis verantwortlich handelnde[n] Mensch[en], der sich in der Gemeinschaft mit seinesgleichen, d.h. mit gleichverantwortlichen zusammenschliesst» als Ziel sozialistischer Erziehung. Dafür sei es nötig, den grundsätzlichen Unterschied des faschistischen und des sozialistischen Begriffs der «Gemeinschaft» herauszuarbeiten: «Die Auseinandersetzung über Grundlagen, Ausgangspunkt und Ziel der sozialistischen Erziehung haben sich in den letzten zehn Jahren sehr verschoben. In den zwanziger Jahren verteidigten die Sozialisten ihre Forderung der Gemeinschaftserziehung gegen das individualistische Erziehungsziel der bürgerlichen Pädagogik. Heute ist Gemeinschaftserziehung die allgemein akzeptierte Forderung, welche insonderheit von den totalitären Staaten (faschistischen und nationalsozialistischen) erhoben wird. Es ist also heute notwendig zu unterscheiden, wodurch dies und sozialistische Gemeinschaftserziehung sich scheiden und entgegengesetzt sind.» Während des Zweiten Weltkrieges war die Schweiz das einzige Land Westeuropas, in welchem die Kinderfreunde und Roten Falken nicht verboten und verfolgt wurden. Unzählige Dokumente aus Österreich, Deutschland und Frankreich wurden darum dem Lasko zur Aufbewahrung übergeben. Die internationale Isolation und die zunehmende Angst führten während des Zweiten Weltkrieges zu ausführlichen internen Auseinandersetzungen über militaristische Symbolik und zu einer expliziten Distanzierung von formaler Autorität und Autoritarismus bei den Roten Falken und Kinderfreunden in der Schweiz.

Nachweise

Adler, Max (1926): Neue Menschen. Gedanken über sozialistische Erziehung. Berlin: E. Laubsche Verlagsbuchhandlung.
Andresen, Sabine (2006): Sozialistische Kindheitskonzepte. Politische Einflüsse auf die Erziehung. München/Basel: Ernst Reinhardt Verlag.
Frei, Annette (1991): Die Welt ist mein Haus: Das Leben der Anny Klawa-Morf. Zürich: Limmat Verlag.
Gill, Thomas (2010): Zur Aktualität Kurt Löwensteins für die politische Jugendbildung. In: Ausserschulische Bildung. Materialien zur politischen Jugend- und Erwachsenenbildung, Ausgabe 3/2010. Berlin: Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten e. V.
Butterwegge, Christoph (1991): Austromarxismus und Staat. Politiktheorie und Praxis der österreichischen Sozialdemokratie zwischen den beiden Weltkriegen. Marburg: Verlag Arbeit und Gesellschaft.
Brandecker, Ferdinand (1989): Kurt Löwenstein (1885-1939): Sozialistische Erziehung als Forderung und Tat. In: Klassiker der sozialistischen Erziehung. Bonn: Bundesvorstand der Sozialistischen Jugend Deutschlands – Die Falken. S. 17-47.
Kanitz, Felix Otto (1970): Kämpfer der Zukunft. Für eine sozialistische Erziehung. Frankfurt am Main: März Verlag.
Löwenstein, Kurt (1928): Der Sinn des Zeltlagers. In: Der Helfer für die praktische Arbeit. Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde Deutschlands. Jg. 1, Ausg. 2.
Löwenstein, Kurt (1929b): Die Aufgaben der Kinderfreunde. In: Brandecker, Ferdinand; Feidel-Mertz, Hildegard (Hrsg.): Kurt Löwenstein: Sozialismus und Erziehung. Eine Auswahl aus den Schriften 1919-1933. Berlin: Dietz Verlag. S. 215-234.
Meyer, Gerold (1933): Die Kinderfreunde- und Falkenbewegung in der Schweiz. In: Zentralsekretariat der Stiftung Pro Juventute (Hrsg.): Schweizerisches Jahrbuch der Jugendhilfe über die Jahre 1931-1932. Band 16. Zürich.
Rehmann, Jan (1994): Antizipation. In: Haug, Wolfgang Fritz (Hrsg.): Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus. Band 1: Abbau des Staates – Avantgarde (1994) Hamburg: Argument Verlag. Spalten 364-376.
Detaillierte Quellenangaben auf Nachfrage

Fabio