Anti-autoritäre Erziehung und ihre Grenzen in den Roten Falken

Die Grundlage anti-autoritärer Erziehung besteht darin, dass Personen unabhängig von ihrem Alter und ihren Kapazitäten die Fähigkeit zugeschrieben wird, eigenständige Entscheidungen zu treffen. Dieses Prinzip wird im Alltag der Roten Falken, in Lagern und am Samstagnachmittag-Programm, gelebt, gelernt und reflektiert. Es soll ein Raum für eine «Gegenwelterfahrung» gegeben werden, wo Kinder, Jugendliche und Helferinnen einen respektvollen Umgang miteinander, das Erkennen und Kommunizieren von eigenen Bedürfnissen, ein anti-autoritäres Zusammenleben gemeinsam üben können.

Autorität – Anti-Autorität

Autorität beeinflusst zwischenmenschliche Beziehungen massgeblich. Auch in den Roten Falken, wo wir explizit den Anspruch haben, einander anti-autoritär zu begegnen und Hierarchien abzuschaffen, ist Autorität ein Teil der Interaktionen. Eigentlich einleuchtend, denn Kinder wachsen nicht nur in den Falken auf, die Helferinnen kämpfen selbst mit internalisierten Autoritätsansprüchen. Wenn eine Teilnehmerin mich siezt oder während dem Mitagessen fragt, ob sie auf die Toilette darf, ist das schon eine Zuschreibung von Autorität; gelernt im Hort, in der Schule, zuhause. Ob ich dann einfach «ja» sage oder die Teilnehmerin darauf hinweise, dass sie das selbst entscheiden darf und mich das nächste Mal nicht mehr fragen muss, ist insofern irrelevant. Es gibt noch klarere Grenzen, die in akuten Situationen offensichtlich werden. Wenn zum Beispiel ein Kind auf einer Wanderung zu nahe am Abgrund geht fehlt die Zeit, zu erklären, wieso das gefährlich ist. Jedoch ist das Einschätzen von Gefahr auch gelernt und wird von allen verschieden gemacht. Wenn ich einem Teilnehmenden sage «komm da weg!», oder ihn physisch wegziehe, setze ich meine Einschätzung über seine und spiele somit meine Autorität über ihn aus. Dies ist jedoch eine Art der Autoritätsausübung, über die wir uns – zumindest im Helferinnen-Team – einig sind, dass sie notwendig ist, auch wenn nur weil im heutigen Kontext Alternativen zu autoritärem Handeln in Notfallsituationen fehlen. Autorität «funktioniert» weil insbesondere jungen Menschen täglich eingetrichtert wird, sie zuzuschreiben und zu respektieren. In den Falken sind also alle in einem konstanten (passiven oder aktiven) Prozess des Verlernens bzw. Unlernens von gesellschaftlichen Hierarchien. Besonders wichtig für diesen Prozess ist, dass die Helferinnen und die älteren Jugendlichen ihre eigene Autoritätsposition reflektieren und benennen können, als erster Schritt im Versuch, diese zu vermindern bzw. abzuschaffen.

Regeln bei den Falken

Auch in den Falken gibt es Regeln, an die sich alle halten sollen – nur sind sie, anders als die gesellschaftlichen, nachvollziehbar. Dass es bereits schlafenden Personen gegenüber unfair ist, noch laut im Schlag zu lachen, ist einleuchtend. Dass man beim Essen den Mund zumacht hingegen fragwürdig. Stört es die Anwesenden, wenn ich mit offenem Mund kaue? Oder «macht man es einfach nicht»? Sinnvolle Regeln können erklärt werden. Per Definition sind Regeln nur dann sinnvoll, wenn sie gemeinsam besprochen, entwickelt, wieder über den Haufen gerannt und neu verhandelt werden. Anti-autoritäre Erziehung schafft keinen Raum frei von Abmachungen. Sie schafft dynamische Abmachungen und damit Regeln ab, die nichts anderes als gesellschaftliche Normen sind.

Gleiches Mitspracherecht für alle?

Der Anspruch an die Falken-Arbeit – «alli chönnd mitmache» – ist ein idealistischer, was manchmal zu frustrierenden Momenten führt. Ist dieser Raum tatsächlich von allen gemeinsam gestaltet? Ist er tatsächlich für alle zugänglich? Wie nahe sind wir tatsächlich am Ideal der anti-autoritären Erziehung? Diese und viele mehr sind die Fragen, aufgrund deren das Projekt immer von neuem kritisiert und verändert wird. Gleichzeitig scheint es an seinem eigenen Anspruch zu scheitern, denn die Grenzen, die ihm gesetzt sind, werden in der Gesellschaft ständig reproduziert. Das Projekt Rote Falken entwickelt sich nicht in einem Vakuum. Im Gegenteil: Es steht mitten in der Gesellschaft, entsteht daraus. Das Ziel ist schliesslich, die Gesellschaft zu verändern.