Zur Aktualität von Paulo Freire

Die brasilianische Bolsonaro-Regierung treibt ihren Umbau der Gesellschaft auch im Bildungswesen mit Vehemenz und Verachtung voran. Was hat das mit Paulo Freire und seiner Theorie zu tun?

Paulo Freire und sein Werk dürften, so erging es zumindest mir zu Beginn meiner Ausbildung in Sozialer Arbeit, vielen nicht mehr sehr geläufig sein. Dennoch lohnt sich eine Auseinandersetzung mit seiner Theorie. Freire lebte von 1921 bis 1997 und war ein brasilianischer Pädagoge und Philosoph. In den 1960er-Jahren entwickelte er ein Alphabetisierungsprogramm, das mehr als die Vermittlung von Lesen und Schreiben umfasste, sondern auf eine Bewusstseinsbildung der Lernenden abzielte. In seinem zentralen Werk «Pädagogik der Unterdrückten» skizziert Freire einen Vorschlag für ein pädagogisches Handeln im Sinne einer politischen und kulturellen Aktion und Haltung. Erziehung ist in seinen Augen niemals neutral, sondern stets von Wahrnehmungen, Verhaltensweisen und Werten geprägt, die an sich politisch sind. Durch gesellschaftliche Akteure, Institutionen und die Pädagogik werden nach Freire Mythen vermittelt, wie beispielsweise die Natürlichkeit einer gesellschaftlichen Ordnung mit Eliten und Massen. Gesellschaftliche Verhältnisse erscheinen als unveränderlich.

Paulo Freire ging es um eine Pädagogik, die mit der Entschlüsselung der erscheinenden Wirklichkeit ihren Teil zu einer Entmythologisierung beiträgt. Er vergleicht zwei pädagogische Methoden. Zum einen eine Pädagogik des Anti-Dialogs, von ihm auch «Bankiers-Methode» genannt. Pädagogik ist hier Mittel für Herrschaft und Unterwerfung der Massen durch die Elite, Wissen und dessen Vermittlung wird als Verabreichung einer Gabe durch die Lehrkräfte praktiziert, Schülerinnen und Schüler werden als leere Gefässe aufgefasst, die einer kulturellen Invasion untergeordnet werden. Das Wissen wird in diesem Sinne eingepflanzt, die Lehrkräfte wirken als Bankiers, in dem sie Einlagen in die die Köpfe machen. Im Gegensatz dazu sieht Freire die «problemformulierende Methode» der Pädagogik, in der in einem dialogischen Verhältnis zwischen den Lernenden und den Lehrenden gemeinsam gelernt wird und in der die Welt nicht als starres Verhältnis gesehen, sondern die Wirklichkeit als veränderbaren Prozess gedacht wird. Der Widerspruch zwischen Lernenden und Lehrenden soll kontinuierlich aufgelöst werden, Lernprozess und -resultat sind offen und es wird konkret nach Lösungen für Bedürfnisse und Probleme gesucht. Aus Freires Pädagogik folgt eine humanistische, aufklärerische Bildung, bei der die mündigen Lernenden mit der «conscientização» (Bewusstseinsbildung) ihre Rechte kennen.

Unfreiwillig komisch wirkt vor diesem Hintergrund der ursprüngliche Beruf des momentanen Bildungsministers Brasiliens, Abraham Weintraub: Der gelernte Bankier wurde vor gut einem Jahr von Jair Bolsonaro eingesetzt. Der brasilianische Präsident und sein wichtigster Ideologe, der rechtsradikale Philosoph und Astrologe Olavo de Carvalho, setzten die Leitlinien: Aufrufe an Schülerinnen und Schüler und Studierende, angeblich kritische Äusserungen von Lehrenden und Dozierenden, aufzuzeichnen und zu denunzieren; Disziplin, Ordnung und eine sogenannte «brasilianische Ideologie» mit Militärschulen; Budgetkürzungen von 30% bei den Universitäten; Kampf den sogenannten «Brutstätten kommunistischen Gedankenguts» und dem «Kulturmarxismus». Es wird gut ersichtlich, wie die Gesellschaft durch die Bildung umgestaltet werden soll. In diesem Zusammenhang ist auch die Äusserung Weintraubs zu verstehen, Freire sei ein Schandmal für die Bildung in Brasilien.

Mehr als eine Million Schülerinnen und Schüler, Studierende und Lehrende scherten derweil nicht um die Ermahnung des Bildungsministers, sie dürften während der Unterrichtszeit nicht demonstrieren: In über 190 Städten gingen sie im Mai 2019 spontan und vielfältig auf die Strasse, um mit Parolen wie «Fora Bolsonaro – Bolsonaro raus» oder «Bücher ja, Waffen nein» gegen die Kürzungen im Bildungsbereich zu protestieren. Es folgte ein Generalstreik gegen die Rentenreform im Juni 2019 mit 45 Millionen Teilnehmenden. Dass die rechtsradikale Bolsonaro-Regierung sich im Dienste der Unternehmen sieht, ist bekannt und gerade auch im Zuge der Corona-Krise noch einmal verdeutlicht worden: «Brasilien darf wegen Corona nicht angehalten werden», so Bolsonaro. Zahlreiche wilde Streiks in Callcentern, Fleischfabriken und im informellen Sektor waren die Antwort, und auch der Versuch der Regierung, den Unternehmen per Dekret zu Hilfe zu eilen, indem sie ihnen erlauben wollte, Beschäftigte für vier Monate ohne Bezahlung freizustellen, schlug angesichts der massiven Proteste fehl und musste nach zwei Tagen zurückgezogen werden. Die Antwort auf die Angriffe auf die Arbeits- und Lebensbedingungen kann daher nur lauten: Solidarische Selbstorganisation und gemeinsamer Kampf!

Felix